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TOP OF THE LINE: Lamborghini Aventador SVJ

Lamborghini hat im neuen Supercar Aventador SVJ sein „Aerodynamica Lamborghini Attiva“-System weiterentwickelt: Der 770-PS-Überflieger soll damit am Asphalt kleben. Wir haben das auf der Rennstrecke in Estoril ausprobiert

Die Verantwortlichen sind nicht glücklich mit den Umständen. Nein, es geht nicht um ihr neuestes Produkt, den auf 900 Stück limitierten Aventador SVJ, sozusagen ein nachgewürzter SV und das neue Top-of-the-line-Modell. Das ist perfekt vorbereitet. Aber mit der Strecke zur Vorstellung des Italien-Fighters haben sie sich unwissentlich verzockt: Eigentlich ist die Formel-1-Strecke in Estoril, Portugal, ideal, um alle Vorzüge von High-Tech-Autos zu beweisen – enge und weite Kurven, eine recht lange Gerade, meistens gutes Wetter. Was sie nicht wissen konnten bei der Buchung: Die Estorilis haben die Piste zwei Wochen vor dem Launch neu geteert. Das bedeutet: weniger Grip als sonst, kein Gummi auf der Strecke. Lambos Technik-Boss Maurizio Reggiani hat dafür nur ein Wort: „Sorry.“

Die Entschuldigung nehmen wir an. Und zwängen uns trotzdem mit großer Vorfreude in einen der bereitstehenden sechs nagelneuen Supercars mit dem J am Ende. Kurzer historischer Ausflug: SV bedeutet schon immer „Superveloce“ („superschnell“), das J am Ende steht (verkürzt erklärt) für Jota, stammt aus der Rennhistorie und gilt bei Lamborghini für einen Rennwagen, der von einem Straßenauto abgeleitet worden ist. Vorne links unter dem der Scheibe befindet sich eine Plakette mit der Aufschrift „1 di 900“ – statt durchzuzählen hat jeder Besitzer also „einen von 900“. Auch gut – fast wichtiger ist das, was hinten drin ist: wunderbare zwölf Zylinder. Kein Turbo, kein Kompressor, die ganze Konstruktion ein herrliches Sauger-Paradies. Das neben 770 PS auch noch 720 Newtonmeter maximales Drehmoment produziert. In einem Lambo, der erstmals in der Geschichte der Marke ein Leistungsgewicht von weniger als zwei Kilo pro PS (1,98 kg/PS) aufweist. Also Schutzklappe über dem Starterknopf aufklappen, drücken, und schon bellt diese herrliche italienische Maschine ihr kraftvolles Lied bis nach Lissabon.

Das Scharfstellen der technischen Synapsen in dem einem Airfighter nachempfundenen Cockpit ist denkbar einfach: Mittig in der Mittelkonsole befindet sich die Fahrmodi-Tastatur. „Komfort“ lassen wir heute mal weg, haben gerade mal kein Weichei als Beifahrer neben uns. „Sport“ stellt Parameter wie Gasannahme, Getriebe und ESP schon mal etwas schärfer, gilt aber auch als „Show-Modus“: Die Auspuffklappen singen ihr „SchautherichhabeingeilesAuto“-Lied, es spotzt und rotzt bassig, das kurze Andriften zum Publikumbeeindrucken klappt problemlos. Da aber momentan niemand zuschaut und wir uns auf einer Rennstrecke befinden, wollen wir Performance und wählen deshalb „Corsa“. Da stellen sich alle Parameter auf Tempo und Präzision ein.

Der Zwölfender brüllt im Rücken, dass es Gänsehaut verursacht (und man getrost vergessen kann, dass Lamborghini für den Verbrauchsmix 19,6 Liter Super angibt, für den Stadtverbrauch eindrucksvolle 31 Liter – was wir hier auf der Rennstrecke verballern, wollen wir gar nicht wissen…). Der mittig aufgehängte Innenrückspiegel ist eigentlich nur dazu da, ein paar seiner Komponenten zu sehen (Reggiani: „Mit dem, was hinter uns passiert, haben wir normalerweise keine Probleme…“), denn die Motorabdeckung verhindert eine bessere Sicht. Aber dafür gibt’s ja auch Rücksicht-Kameras.

Mit 1525 Kilo ist der Standard-SVJ nicht gerade ein Superleichtgewicht, und trotzdem geht der Lambo ab wie Schmidts Gepard. Lambo gibt 2,8 Sekunden für den optimalen Sprint auf 100 km/h und 8,2 Sekunden für 0-200 km/h an, das ist für gut eineinhalb Tonnen schweren Luxussportwagen verdammt gut und sowohl seiner Abstimmung als auch dem Allradantrieb und den extra entwickelten Pirelli-Reifen zu verdanken. Wahrscheinlich würde er die Super-Zeit auf dieser neu belegten Estoril-Piste jedoch nicht schaffen.

Tatsächlich ist die Haftgrenze des Lambo (Achslastverteilung: 43 Prozent vorne, 57 Prozent hinten) hier auf dem neuen Untergrund herabgesetzt. Trotzdem ist zu spüren, was für Kurventempi dank Hinterradlenkung und ALA 2.0 möglich sind. „ALA“ bedeutet „Aerodynamica Lamborghini Attiva“ und bezeichnet die aktive Luftführung, die Lambo schon im Huracan Performante einsetzt und jetzt weiterentwickelt hat. ALA 2.0 variiert elektronisch gesteuert die aerodynamische Last, um je nach Anforderung für Anpressdruck oder wenig Luftwiderstand zu sorgen. Stellmotoren öffnen und schließen dazu Klappen in den Frontsplittern und in der Motorabdeckung, die sich innen am Fuße des Heckflügels befinden. Das Verstellen erfolgt innerhalb von 500 Millisekunden. Dank „Aero Vectoring“ sorgen die Klappen hinten auch noch je nach Links- der Rechtskurve für mehr oder weniger Abtrieb je Seite. Der SVJ glänzt insgesamt mit 40 Prozent mehr Abtrieb, als der Vorgänger Aventador SV besaß, der allerdings mit 750 PS und 690 Newtonmeter auch etwas schwächer war.

Das Sahneaggregat im Rücken hängt sofort perfekt am Gas – wie man das Siebengang-Getriebe zum schnellen Wechseln der Gänge kriegt, muss man dagegen lernen. Erstens: Es handelt sich nicht um eine Doppelkupplung, obwohl sie durchaus verfügbar wäre. Der Grund: Laut Lambo lieben es die Fahrer dieses Supercars so pur wie möglich. Zweitens: Im Corsa-Modus gibt es keine Automatikfunktion. Der gemeine Aventador-Freund schaltet auf der Piste eben am liebsten selbst. Und drittens: Bis das Getriebe so schnell reagiert, wie man das erwartet, müssen zwei Faktoren erfüllt sein – mehr als 6000 Umdrehungen auf der Uhr und Pedal to the Carbon. Dann wandelt sich die jeweilige bislang nur rot umrandete Ganganzeige in der Mitte des digitalen Displays vor dem Fahrer in ausgefülltes Rot. Wer jetzt mit dem Paddel hochschaltet, wird mit sofortigem und hartem Schaltvorgang und ungebrochener Beschleunigung belohnt.

Die Carbon-Keramik-Bremsscheiben (vorne 400 mm, hinten 380 mm) verzögern das Carbonfaser-Monocoque samt Aluteilen (Fronthaube, Türen, vordere Kotflügel) sagenhaft, Könner stehen aus 100 km/h nach 30 Metern. Wenn es überhaupt etwas zu meckern gibt, sind das außer einem für die meisten Fans prohibitivem Kaufpreis von 415.448 Euro, der (konstruktiv bedingt?) zu niedrig angebrachte obere Gurtanlenkpunkt (Gurt rutscht einem 1,80-Mann ständig von der Schulter), die fehlende Wand zum Anlehnen fürs linke Knie bei rasanten Kurvenfahrten (dabei sind die Sicheltüren natürlich eine zu Lambo gehörende Show) und die nicht für jeden optimal angebrachten Schaltpaddel, die sich nicht am Lenkrad befinden. Wie bei Ferrari sind sie fest an der Lenksäule montiert – für Technikchef Reggiani eine Frage der Philosophie. Tatsache ist: Auf der Straße muss man schon mal beim Lenkrad umgreifen, auf der Rennstrecke nicht.

Lambo-Testfahrer Marco Mapelli hat das auf der Nordschleife natürlich nicht gestört: Der Testfahrer prügelte im Juli einen Aventador SVJ in 6:44,97 Minuten durch die Grüne Hölle, was einen neuen Rekord für straßenzugelassene Autos bedeutet.

Man braucht eben nur den richtigen Grip…

Technische Daten:

Lamborghini Aventador SVJ

Motor: V12
Hubraum: 6.498 cm3
Leistung: 566 kW (770 PS) bei 8.500 U/min
Max. Drehmoment: 720 Nm bei 6.750 U/min
Getriebe: 7-Gang-Automatik
Antrieb: Allrad
Maße (L/B/H mm) : 4.943 / 2.098 / 1.136 mm
Gewicht: 1.525 kg
Sprint 0-100 km/h: 2,8 Sekunden
Top Speed: 351 km/h
Preis: 415.448,- EUR

GRIP-Faktor
PERFORMANCE: 5 von 5 Sternen
DRIVESTYLE: 5 von 5 Sternen
PREIS PRO PS: 539,54 EUR

Autor: Roland Löwisch – Fotos: Lamborghini, Roland Löwisch