VOLLE BREITSEITE: Porsche 911 (992)

Dicker, schwerer, besser: Der neue 911, Typ 992, ist mal wieder das Maß aller sportwagenmäßigen Dinge geworden. Viel weniger darf sich Porsche bei der Ikone auch nicht erlauben

Okay, die Bremsen waren bei einem 911 eigentlich noch nie ein Thema. Die Beschleunigung auch nicht. Optimale Sitze ebenfalls nicht, Verarbeitung erst recht nicht. Man könnte also meinen: Der neue 911 ist kein Thema.

Stimmt nicht ganz, denn ein 911 ist eine Ikone – egal in welcher Generation. Deswegen ist er immer ein Thema – erst recht, wenn mal wieder eine neue Generation in den Schlaglöchern steht. Das ist jetzt die achte.

Der neue 911 ist sofort als solcher zu erkennen, natürlich etwas gewachsen (20 mm länger, 44 Millimeter breiter vorne, 45 Millimeter hinten, 4 Millimeter höher), selbstverständlich etwas schwerer (55 Kilo Zunahme im Vergleich zum Vorgänger), und selbstredend bei gleicher Motorgröße mit mehr Kraft ausgestattet (bei S und 4S, die jetzt zuerst auf den Markt geworfen werden, 450 PS – also 30 PS mehr, mit 530 Nm ebenfalls 30 Nm mehr maximales Drehmoment). Das alles überrascht nicht wirklich. Was dann?

Zum Beispiel der „Wet Mode“? Porsche jedenfalls verkauft dieses neue Gadget im am Lenkrad befindlichen Mode-Wahldrehschalter als neues Highlight. Was es damit auf sich hat, war anfangs allerdings selbst den Porsche-Obersten nicht so ganz klar. Bei der Premiere in den USA fragten wir einen Hochverantwortlichen, was das System könne. „Es warnt die nachfolgenden Porschefahrer, die das gleiche System besitzen, vor der Gefahr des Aquaplanings,“ war die Antwort. Okay, hübsche Idee, aber soweit ist selbst Porsche noch nicht. Es ist eher so: Die Mikrophone in den vorderen Radhäusern erkennen den Sound von aufgewirbeltem Spritzwasser und versetzen die bordeigenen Sicherheitssysteme in Obacht – der Fahrer muss dann nur noch manuell in den „Wet Mode“ schalten. Der macht schließlich nichts anderes, als alle Sicherheitssysteme wie ESP, Gaspedalkennlinie, PASM, die Stabilisatoren, die Lenkung und mehr auf die softeste oder optimale Wirkung einzustellen. Damit kann der Sportwagen dann selbst von Prinz Phillip von England gefahren werden, ohne dass er das Auto gleich auf dem Kopf abstellt – es sei denn, er fährt schneller als seine Frau schimpfen kann. Physik ist und bleibt nunmal die stärkste Kraft beim Autofahren. Aber auch ohne dieses Gimmick ist der neue Porsche 911 gelungen.

Bevor wir einsteigen, ein kurzer Designrundgang. Uns gefällt auf Anhieb das neue Heck mit dem durchgehenden Leuchtenband mit LED-Technik. Auffällig der zentrale Lufteinlass hinten (darunter befinden sich die gewachsenen Ladeluftkühler), und eine hübsche Idee ist die in zwei dieser Lamellen eingelassene dritte Bremsleuchte. Die Türgriffe sind jetzt versenkt und kommen bei Bedarf hervor, was nicht jedem gefällt, aber aerodynamisch ist (tatsächlich haben wir auch mal danebengegriffen bei dem Versuch, die Tür zu öffnen – das Teil ist gewöhnungsbedürftig). Vorne fallen die neuen LED-Matrix-Hauptscheinwerfer auf. Natürlich gibt es auch neue Räder – erstmals werden vorne und hinten zwei verschiedene Größen verwendet (vorne 20 Zoll und 245/35ZR20-, hinten 21 Zoller und 305/30ZR21-Pirelli-P-Zeros). Das hat allerdings nicht nur stilistische Gründe, sondern verbessert auch die Balance. Sie soll das Auto noch neutraler und kontrollierbarer machen und sowohl unter- als auch übersteuern so weit wie möglich verhindern oder zumindest minimieren.

Designchef Michael Mauer hat sich beim 992 mehr als bei allen anderen Nachfolgern die Ur-Ikone zum Vorbild genommen. So erinnert die Form der Fronthaube mit ihrer markanten Vertiefung vor der Windschutzscheibe an das F-Modell. Auch innen blickt Mauer mit Respekt auf den frühen Elfer – und hat deshalb mit seinem Team das gesamte Interieur erneuert. Ziel: „Klarheit und formale Eindeutigkeit“. Obwohl: Der Drehzahlmesser ist zum Glück wie immer analog ausgeführt sowie groß und mittig platziert. Dass es sich auf dem Instrumentenbrett um fünf Rundinstrumente handeln soll, wird erkennbar angedeutet, die deutlich horizontale Cockpitebene des G-Modells ist aber tatsächlich erlebbar und die Kippschalter finden wir so klassisch wie schön.

Was nicht mehr klappt, ist, den Zündschlüssel nach dem Motto „mein Haus, meine Frau, mein Auto“ auf den Stammtisch zu legen – es gibt keinen mehr. Wegen „Keyless Go“ existiert nur noch einen Drehschalter zum Anlassen – aber immerhin links vom Lenkrad.  Dafür erinnern Lederschlaufen für die Klappfunktion der Lehnen an alte Zeiten. Sonst sind die Sitze hochmodern: Gemeinsam sind sie drei Kilo leichter als die Vorgänger und bieten nochmal besseren Seitenhalt.

Hinein in das Objekt der Begierde von so vielen Porsche-Fans und Sportwagenfahrern, die stets meinen, einen 911 könne man nicht mehr optimieren. Nachdem wir erlebt haben, wie der Wet-Mode auf eine nassen Kartstrecke funktioniert (er aktiviert tatsächlich sämtliche Spaßbremsen, was die Fahrt sicherer macht als ein Spaziergang durch Fort Knox), geht’s auf die 4,005 Kilometer lange Motorradrennstrecke Circuit Ricardo Tormo bei Valencia. Die Piste bietet 14 Kurven, ist gut überschaubar und sehr flüssig zu fahren – optimal für ein paar schnelle Runden. Mark Webber hat hier mit dem neuen 911 eine Rundenzeit von 1:45,94 hingelegt und erreichte auf der langen Start- und Zielgerade ein Top-Tempo von 241 km/h., unsere Instruktoren gegen sich aber alle Mühe, dass wir das nicht nachmachen. Dennoch erwartet uns eine zügige Fahrt über die Rundstrecke: Uns hat man einen Carrera S zugelost, wir müssen uns also mit nur einer angetriebenen Achse zufriedengeben.

„Müssen“? Waren früher nicht alle 911er nur hinterradgetrieben? Ist das vielleicht die wahre Neunelferei? Trotz aktiviertem PASM (das Porsche-ESP, wir dürfen es nicht ausschalten) ein bisschen mit dem Heck wedeln, oder?

Nichts da. Auf den schnellen Kilometern zuckt der 2S nicht einmal mit seinem Kardashian-Hintern (ziemlich ausufernd, aber formal gelungen). Dieser 911 liegt selbst bei durchaus zügigem Tempo wie Blei, ohne die Lethargie dieses Materials zu übernehmen. Die Lenkung ist wunderbar exakt, wieder ein Schritt nach vorne, und die über Schaltwippen dirigierbare, brandneu entwickelte Achtgang-Doppelkupplung reagiert schneller als Rentner bei Lidl, wenn die zweite Kasse aufmacht (eine Siebengang-Schaltversion wird nachgeliefert). Dabei darf der Boxer im Sport- und vor allem im Sport+-Mode nach außen hin brüllen wie ein Großer, innen halten sich die Auswirkungen der künstlich erzeugten Testosteron-Stoßgebete in angenehmen Grenzen.

Die enorme Beschleunigung (3,7 Sekunden für Carrera S, mit Sport Plus 3,5 Sekunden und 12,4 bzw. 12.1 Sekunden von 0 auf 200 km/h, beim 4S sind es 3,4 Sekunden mit Sport Plus und 3,6 Sekunden ohne, für 200 km/h gibt Porsche 12,4 bzw. 12,7 Sekunden an)) erlebt der Pilot ziemlich unaufgeregt – eine Folge der grassierenden Elektronik, die inzwischen so ziemlich alles regelt. Natürlich nimmt das etwas von der ursprünglichen Faszination – aber so etwas betrifft so ziemlich alle modernen Sportwagen.

Leider wird es für Normalsterbliche immer unwahrscheinlicher, in den dauerhaften Genuss eines neuen Porsche 911 zu kommen. Das liegt nicht nur daran, dass Neunelfer die am meisten gestohlenen Autos in Deutschland sind, sondern vor allem an der Tatsache, dass der Carrera S 120.125 Euro kostet, der 4S bereits 127.979 Euro inklusive Mehrwertsteuer. Noch teurer wird naturgemäß das Cabrio, das als nächste Ausbaustufe auf den Markt losgelassen wird – ebenfalls zunächst als S und 4S. Hier freut man sich eventuell über ein vollautomatisches Softtop mit beheizbarer Heckglasscheibe, das bis 50 km/h funktioniert und zwölf Sekunden zum Öffnen und Schließen benötigt. Das Frischluftvergnügen im 992 kostet 134.405 Euro, bei vier angetriebenen Rädern 142.259 Euro.

Aber, unter uns: Der Preis war bei den echten 911-Jüngern noch nie ein Thema. Womit sich der Kreis schließt…

Technische Daten:

Porsche 911 S

Motor: Sechszylinder Boxer-Biturbo
Hubraum: 2.981 cm3
Leistung: 331 kW (450 PS) bei 6.500 U/min
Max. Drehmoment: 530 Nm bei 2.300 bis 5.000 U/min
Getriebe: 8-Gang-Doppelkupplung
Antrieb: Hinterräder
Maße (L/B/H mm) : 4.519 / 1.852 / 1.300 mm
Gewicht: 1.515 kg
Sprint 0-100 km/h: 3,5 Sekunden
Top Speed: 308 km/h
Preis: 120.125,- EUR

GRIP-Faktor
PERFORMANCE: 5 von 5 Sternen
DRIVESTYLE: 4,5 von 5 Sternen
PREIS PRO PS: 266,94 EUR

Autor: Roland Löwisch – Fotos: Daniel Wollstein/Porsche, Roland Löwisch

STÜRMISCHE ZEITEN: McLaren 720 S Spider

Das war ja klar: McLaren macht aus dem 720S einen Spider. Das bedeutet: Wie gehabt 720 PS, aber Sturm in der Bude. Besonders spannend bei 5 Grad Celsius und unter Polizei- beobachtung in Arizona

Die Warnung ist deutlich: Zwei sind schon geschnappt worden. Ausnahmsweise allerdings nicht Motor-Journalisten bei der Ausübung ihres Berufes, sondern beides Mitarbeiter von McLaren. Jeder für sich hat ein bisschen gespeeded.

Kein Wunder – ist der Highway 260 bei Payson in Arizona doch kaum befahren, doppelspurig pro Fahrtrichtung und gut geteert. Das herrliche Brüllen des Biturbo-V8 im McLaren 720S Spider wird verschluckt von uralten Saguaro-Kakteen, (die allerdings warnend ihre Ableger in den Himmel recken), Massen von Steinen und Felsen und ein paar darbenden Büschen in den arizonischen Hügeln. 65 Meilen pro Stunde sind hier erlaubt, das sind (mit Verlaub lächerliche gut) 100 km/h. Ab 100 mph, als 35 mp/h mehr als erlaubt, sind einem mehrere Nächte in einem möglicherweise trumpverseuchten Knast irgendwo in der verballterten Pampa im Südwesten der USA sicher. Nein danke!

Aber was macht man dann mit einem 720 PS starken Supercar, dessen Hauptnovität darin besteht, dass das Dach variabel ist? Na klar: Dach auf, die verdammt kalten fünf Grad Celsius reinlassen, Sitzheizung auf drei Schlangen, Heckfenster und Seitenscheiben bis zum Anschlag runter (jawohl, runter, denn weicheiern können wir auch zu Hause), Gebläse auf volle Pulle, Jacke bis zum Kinn schließen und ab ins Abenteuer. Ist einem die Top-Speed schon verwehrt, kann man sich wenigstens mit klirrender Kälte dem amerikanischen Mainstream entziehen, der in voll geschlossenen Pick-Ups vor sich hin langweilt.

Ein McLaren ist schon als Coupé überhaupt nicht langweilig – selbst dann nicht, wenn man mit 65 mph (na gut, bei übersichtlicher Topografie auch mal 75, 85 oder 95 Meilen pro Stunde) dahincruisen muss. Technisch gleicht der Spider dem zuvor gelaunchten Coupé tatsächlich in den meisten Punkten. Ausnahmen: ein neuer Monocage namens II-S wegen der offenen Bauart mit neu entwickeltem „ROPS“ („Rollover Protection System“, 6,8 Kilo leichter geworden als beim Vorgänger 650S Spider, keine weiteren Verstärkungen in der Karosserie mehr nötig), natürlich eine andere Dachkonstruktion, neue rahmenlose Türen mit neuen Verankerungen, neues Raddesign und neue Kotflügel  vorne und hinten. Allerdings haben es die Verantwortlichen geschafft, dem Spider die nahezu gleichen Fahrleistungen wie beim geschlossenen Pendant anzuerziehen. Das heißt: 0 auf 100 km/h in 2,9 Sekunden, Top-Speed 341 km/h (mit geöffnetem Dach allerdings „nur“ 325 km/h). Nur beim Sprint von 0 auf 200 km/h ist der Spider mit 7,9 Sekunden um eine Zehntelsekunde langsamer als das Coupé, beim Sprint auf 300 km/h ist es eine volle Sekunde – aber eine Strecke zu finden, auf der man von 0 auf 300 in einem Stück beschleunigen kann, ist nicht nur in Amerika ein großes Problem.

Die feinen Fahrleistungen erreicht McLaren wie gewohnt unter anderem durch strikte Diät beim Autobau. Nicht nur beim Monocage – so als würde Lotus-Gründer und Leichtbaupapst Colin Chapman aus dem britischen Autobauerhimmel die Hand über McLaren halten: Der Spider wiegt nur 49 Kilo mehr als das Coupé. Davon trägt die Hauptlast das einteilige elektrische Dach samt Abdeckplatte und alle dazugehörigen Mechanismen sowie die halbdurchsichtigen „C-Säulen“. Die nicht nur gut aussehen, sondern den Blickwinkel von innen nach rechts und links hinten auch ein bisschen verbessern.

Das neue Dach ist übrigens voll und ganz gelungen. Es benötigt nur elf Sekunden zum Öffnen oder Schließen, ist damit die schnellste Konstruktion der Supercarfraktion und arbeitet bis 50 km/h. Zu hören ist kein nerviges Gesurre, die Mechanik arbeitet fast geräuschlos bis auf das leichte Klacken des Ver- und Entriegelns der Dachplatte am Scheibenrahmen. Letzterer ist um 80 Millimeter weiter nach vorne gerückt, was nicht nur das Ein- und Aussteigen erleichtert, sondern die Insassen auch wunderbar im Freien sitzen lässt – wie es bei einem Spider (ursprünglich eine zweisitzige Kutsche ohne Dach) sein soll. Nettes Gimmick: Optional kann man sein Dachpaneel als elektrochromisches Element bekommen – auf Knopfdruck verdunkelt es sich oder lässt mehr Licht durch. Das kostet allerdings satte 7500 Pfund extra.

Und so tigern wir mit unserem 720S Spider im aufpreispflichtigen „Aztec-Gold“ (4330 Pfund) durch das winterliche Arizona, wobei unklar ist, ob Farbe, Form oder Tempo (das sportwagenunübliche langsame natürlich) die Passanten dazu bringt, ihr Handy zu zücken und Fotos zu machen. Vielleicht ist es auch das Wissen, dass man nicht so oft so ein britisches Supercarmodell vor die Linse bekommt, auch wenn die USA McLarens wichtigster Markt sind und auch wenn 2019 fast 50 Prozent der gesamten McLaren-Produktion Spider sein werden (auch dank des gleichzeig geöffneten 600LT Spider). Der Preis von 237.000 Pfund (in Deutschland 280.000 Euro; Testwagen: 246.990 Pfund unter anderem wegen vieler optionaler Carboneinlagen, den oben beschrieben Extras, einem Stainless-Steel-Auspuff für 4900 Pfund und einer sehr hilfreichen 360-Grad-Einparkhile-Kamera für 4720 Pfund) scheint für viele potenzielle Kunden kein Hindernis zu sein.

Beim Fahren geht es allerdings hauptsächlich darum, den Schub im Nacken zu spüren und den Sound ungefiltert an die Ohren zu lassen. Selbst bei schlechtem Wetter und deshalb geschlossenem Dach funktioniert das, weil die auch als Windschott funktionierende Heckscheibe stufenlos elektrisch zu öffnen ist. Und der Motor direkt dahinter geräuschvoll den Sprit verbrennt.

Falls es Sie interessiert: Wir haben uns wirklich zusammengerissen, und die tatsächlich patroullierenden Cops hatten bei uns keinen Grund zur Klage. Aber auch die beiden McLaren-Mitarbeiter sind mit einer Verwarnung davongekommen – selbst zu Trump-Zeiten lohnt es sich in den USA, freundlich und einsichtig zu sein…

Technische Daten:

McLaren 720S Spider

Motor: V8 Biturbo
Hubraum: 3.994 cm3
Leistung: 530 kW (720 PS) bei 7.500 U/min
Max. Drehmoment: 770 Nm bei 5.500 U/min
Getriebe: 7-Gang-Doppelkupplung
Antrieb: Hinterräder
Maße (L/B/H mm) : 4.544 / 1.930 / 1.194 mm
Gewicht: 1.332 kg
Sprint 0-100 km/h: 2,9 Sekunden
Top Speed: 341 km/h
Preis: 280.000,- EUR

GRIP-Faktor
PERFORMANCE: 5 von 5 Sternen
DRIVESTYLE: 5 von 5 Sternen
PREIS PRO PS: 388,89 EUR

Autor: Roland Löwisch – Fotos: McLaren, Roland Löwisch

TOP OF THE LINE: Lamborghini Aventador SVJ

Lamborghini hat im neuen Supercar Aventador SVJ sein „Aerodynamica Lamborghini Attiva“-System weiterentwickelt: Der 770-PS-Überflieger soll damit am Asphalt kleben. Wir haben das auf der Rennstrecke in Estoril ausprobiert

Die Verantwortlichen sind nicht glücklich mit den Umständen. Nein, es geht nicht um ihr neuestes Produkt, den auf 900 Stück limitierten Aventador SVJ, sozusagen ein nachgewürzter SV und das neue Top-of-the-line-Modell. Das ist perfekt vorbereitet. Aber mit der Strecke zur Vorstellung des Italien-Fighters haben sie sich unwissentlich verzockt: Eigentlich ist die Formel-1-Strecke in Estoril, Portugal, ideal, um alle Vorzüge von High-Tech-Autos zu beweisen – enge und weite Kurven, eine recht lange Gerade, meistens gutes Wetter. Was sie nicht wissen konnten bei der Buchung: Die Estorilis haben die Piste zwei Wochen vor dem Launch neu geteert. Das bedeutet: weniger Grip als sonst, kein Gummi auf der Strecke. Lambos Technik-Boss Maurizio Reggiani hat dafür nur ein Wort: „Sorry.“

Die Entschuldigung nehmen wir an. Und zwängen uns trotzdem mit großer Vorfreude in einen der bereitstehenden sechs nagelneuen Supercars mit dem J am Ende. Kurzer historischer Ausflug: SV bedeutet schon immer „Superveloce“ („superschnell“), das J am Ende steht (verkürzt erklärt) für Jota, stammt aus der Rennhistorie und gilt bei Lamborghini für einen Rennwagen, der von einem Straßenauto abgeleitet worden ist. Vorne links unter dem der Scheibe befindet sich eine Plakette mit der Aufschrift „1 di 900“ – statt durchzuzählen hat jeder Besitzer also „einen von 900“. Auch gut – fast wichtiger ist das, was hinten drin ist: wunderbare zwölf Zylinder. Kein Turbo, kein Kompressor, die ganze Konstruktion ein herrliches Sauger-Paradies. Das neben 770 PS auch noch 720 Newtonmeter maximales Drehmoment produziert. In einem Lambo, der erstmals in der Geschichte der Marke ein Leistungsgewicht von weniger als zwei Kilo pro PS (1,98 kg/PS) aufweist. Also Schutzklappe über dem Starterknopf aufklappen, drücken, und schon bellt diese herrliche italienische Maschine ihr kraftvolles Lied bis nach Lissabon.

Das Scharfstellen der technischen Synapsen in dem einem Airfighter nachempfundenen Cockpit ist denkbar einfach: Mittig in der Mittelkonsole befindet sich die Fahrmodi-Tastatur. „Komfort“ lassen wir heute mal weg, haben gerade mal kein Weichei als Beifahrer neben uns. „Sport“ stellt Parameter wie Gasannahme, Getriebe und ESP schon mal etwas schärfer, gilt aber auch als „Show-Modus“: Die Auspuffklappen singen ihr „SchautherichhabeingeilesAuto“-Lied, es spotzt und rotzt bassig, das kurze Andriften zum Publikumbeeindrucken klappt problemlos. Da aber momentan niemand zuschaut und wir uns auf einer Rennstrecke befinden, wollen wir Performance und wählen deshalb „Corsa“. Da stellen sich alle Parameter auf Tempo und Präzision ein.

Der Zwölfender brüllt im Rücken, dass es Gänsehaut verursacht (und man getrost vergessen kann, dass Lamborghini für den Verbrauchsmix 19,6 Liter Super angibt, für den Stadtverbrauch eindrucksvolle 31 Liter – was wir hier auf der Rennstrecke verballern, wollen wir gar nicht wissen…). Der mittig aufgehängte Innenrückspiegel ist eigentlich nur dazu da, ein paar seiner Komponenten zu sehen (Reggiani: „Mit dem, was hinter uns passiert, haben wir normalerweise keine Probleme…“), denn die Motorabdeckung verhindert eine bessere Sicht. Aber dafür gibt’s ja auch Rücksicht-Kameras.

Mit 1525 Kilo ist der Standard-SVJ nicht gerade ein Superleichtgewicht, und trotzdem geht der Lambo ab wie Schmidts Gepard. Lambo gibt 2,8 Sekunden für den optimalen Sprint auf 100 km/h und 8,2 Sekunden für 0-200 km/h an, das ist für gut eineinhalb Tonnen schweren Luxussportwagen verdammt gut und sowohl seiner Abstimmung als auch dem Allradantrieb und den extra entwickelten Pirelli-Reifen zu verdanken. Wahrscheinlich würde er die Super-Zeit auf dieser neu belegten Estoril-Piste jedoch nicht schaffen.

Tatsächlich ist die Haftgrenze des Lambo (Achslastverteilung: 43 Prozent vorne, 57 Prozent hinten) hier auf dem neuen Untergrund herabgesetzt. Trotzdem ist zu spüren, was für Kurventempi dank Hinterradlenkung und ALA 2.0 möglich sind. „ALA“ bedeutet „Aerodynamica Lamborghini Attiva“ und bezeichnet die aktive Luftführung, die Lambo schon im Huracan Performante einsetzt und jetzt weiterentwickelt hat. ALA 2.0 variiert elektronisch gesteuert die aerodynamische Last, um je nach Anforderung für Anpressdruck oder wenig Luftwiderstand zu sorgen. Stellmotoren öffnen und schließen dazu Klappen in den Frontsplittern und in der Motorabdeckung, die sich innen am Fuße des Heckflügels befinden. Das Verstellen erfolgt innerhalb von 500 Millisekunden. Dank „Aero Vectoring“ sorgen die Klappen hinten auch noch je nach Links- der Rechtskurve für mehr oder weniger Abtrieb je Seite. Der SVJ glänzt insgesamt mit 40 Prozent mehr Abtrieb, als der Vorgänger Aventador SV besaß, der allerdings mit 750 PS und 690 Newtonmeter auch etwas schwächer war.

Das Sahneaggregat im Rücken hängt sofort perfekt am Gas – wie man das Siebengang-Getriebe zum schnellen Wechseln der Gänge kriegt, muss man dagegen lernen. Erstens: Es handelt sich nicht um eine Doppelkupplung, obwohl sie durchaus verfügbar wäre. Der Grund: Laut Lambo lieben es die Fahrer dieses Supercars so pur wie möglich. Zweitens: Im Corsa-Modus gibt es keine Automatikfunktion. Der gemeine Aventador-Freund schaltet auf der Piste eben am liebsten selbst. Und drittens: Bis das Getriebe so schnell reagiert, wie man das erwartet, müssen zwei Faktoren erfüllt sein – mehr als 6000 Umdrehungen auf der Uhr und Pedal to the Carbon. Dann wandelt sich die jeweilige bislang nur rot umrandete Ganganzeige in der Mitte des digitalen Displays vor dem Fahrer in ausgefülltes Rot. Wer jetzt mit dem Paddel hochschaltet, wird mit sofortigem und hartem Schaltvorgang und ungebrochener Beschleunigung belohnt.

Die Carbon-Keramik-Bremsscheiben (vorne 400 mm, hinten 380 mm) verzögern das Carbonfaser-Monocoque samt Aluteilen (Fronthaube, Türen, vordere Kotflügel) sagenhaft, Könner stehen aus 100 km/h nach 30 Metern. Wenn es überhaupt etwas zu meckern gibt, sind das außer einem für die meisten Fans prohibitivem Kaufpreis von 415.448 Euro, der (konstruktiv bedingt?) zu niedrig angebrachte obere Gurtanlenkpunkt (Gurt rutscht einem 1,80-Mann ständig von der Schulter), die fehlende Wand zum Anlehnen fürs linke Knie bei rasanten Kurvenfahrten (dabei sind die Sicheltüren natürlich eine zu Lambo gehörende Show) und die nicht für jeden optimal angebrachten Schaltpaddel, die sich nicht am Lenkrad befinden. Wie bei Ferrari sind sie fest an der Lenksäule montiert – für Technikchef Reggiani eine Frage der Philosophie. Tatsache ist: Auf der Straße muss man schon mal beim Lenkrad umgreifen, auf der Rennstrecke nicht.

Lambo-Testfahrer Marco Mapelli hat das auf der Nordschleife natürlich nicht gestört: Der Testfahrer prügelte im Juli einen Aventador SVJ in 6:44,97 Minuten durch die Grüne Hölle, was einen neuen Rekord für straßenzugelassene Autos bedeutet.

Man braucht eben nur den richtigen Grip…

Technische Daten:

Lamborghini Aventador SVJ

Motor: V12
Hubraum: 6.498 cm3
Leistung: 566 kW (770 PS) bei 8.500 U/min
Max. Drehmoment: 720 Nm bei 6.750 U/min
Getriebe: 7-Gang-Automatik
Antrieb: Allrad
Maße (L/B/H mm) : 4.943 / 2.098 / 1.136 mm
Gewicht: 1.525 kg
Sprint 0-100 km/h: 2,8 Sekunden
Top Speed: 351 km/h
Preis: 415.448,- EUR

GRIP-Faktor
PERFORMANCE: 5 von 5 Sternen
DRIVESTYLE: 5 von 5 Sternen
PREIS PRO PS: 539,54 EUR

Autor: Roland Löwisch – Fotos: Lamborghini, Roland Löwisch